Der Erfahrbare Atem nach Prof. Ilse Middendorf ist ein Weg, den eigenen Atem zu entdecken und seinen ursprünglichen, natürlichen Rhythmus kennenzulernen.
Den Atem kommen zu lassen wurde von Ilse Middendorf als das wichtigste Element der Methode bezeichnet. Sie unterschied damit den Erfahrbaren Atem von Beginn an von Methoden, die ihn willentlich verwenden oder ihn im Unbewussten belassen.
Im Erfahrbaren Atem steht die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten im Vordergrund. Vor allem geht es dabei um die Entwicklung und Bewusstwerdung dessen, was wir Empfindungen nennen (die wir von Gefühlen unterscheiden) und nicht um die kognitive Bewusstwerdung. Empfindungen beruhen auf der wahrnehmenden Funktion des Nervensystems. Gefühle sind die Bewertungen dessen, was vorher empfunden wurde.
Ist der Atem zugelassen, wächst ein Empfindungsbewusstsein, das den Körpers zu immer mehr spürbarem Leben erweckt. Der Körper wird so zum ganzheitlich erfahrbaren Leib.
Mit der Erfahrung den Atem kommen zu lassen und empfinden zu können, wachsen die Fähigkeiten, sich zu sammeln und dem Atem – in Balance zwischen Hingabe und Achtsamkeit – immer mehr die Führung überlassen zu können. Damit steigern sich:
Gleichzeitig wächst bei diesem Prozess das, was wir mit Durchlässigkeit für die Atembewegung bezeichnen und es ändert sich die Haltung des Menschen, sowohl die seines Körpers als auch die bezüglich seiner Sicht auf vorhandene Probleme, Störungen und Krankheiten.
Im Erfahrbaren Atem wird der natürliche menschliche Atemrhythmus zur Grundlage einer Reihe systematischer Übungen, in denen nicht der Atem direkt, sondern das Empfindungsbewusstsein so geschult wird, dass die reorganisierende Kraft des Atems wirksam werden kann.
Grundlage des bewussten zugelassenen Atems ist die Bewegung. Um die Atembewegung als lebendige Schwingung im ganzen Körper wieder erfahrbar zu machen, setzt die Atemtherapie ein komplexes Instrumentarium von Methoden und Arbeitsweisen ein, die die Arbeit mit dem Körper, der Psyche, dem Atem und der Stimme beinhalten.Im Mittelpunkt der Lehre vom Erfahrbaren Atem stehen die drei Komponenten Sammeln – Empfinden – Atmen. Sie sind in der Reihenfolge austauschbar und bilden das Eingangstor zu einem Atemzustand, der uns tiefgreifend wandelt.
Alle fest geformten Atemübungen suchen ein Ziel und dienen einem Zweck, sei es zum Aufbau der Gesundheit, sei es ein vorgeschriebener Weg zu Vergeistigung. Der Erfahrbare Atem dagegen ist in das Sosein eingebettet. Sein Wesen ist, dass wir ihn in unserer Ganzheit erfassen können, ihn weder von außen betrachten, noch ihn erdenken. Wenn wir den Atem erfahren, wird er bewirkend und wir sind Atem.
Der physiologische Hintergrund der Lehre vom Erfahrbaren Atem ist durch die Medizin weitgehend gesichert, so dass diese Atemlehre auf einer realen Grundlage steht.
Durch einfache, angeleitete Bewegungsübungen im Sitzen, Stehen oder Gehen lernen Sie, bei Sich und Ihrem Körper anzukommen. Zunächst lernen die Übenden ihren Atem kennen, ohne dessen Ablauf zu stören. Sie lernen zu unterscheiden zwischen ihrer unbewussten Atemfunktion, dem vom Willen eingesetzten Atem und dem Erfahrbaren Atem.
Dabei entdecken Sie, dass der (Ein-)Atem reflektorisch auf Körperdehnungen reagiert, ebenso wie auf das Zusammenlegen von Fingerkuppen, der sogenannten Druckpunktarbeit.
In der Vokalraumarbeit erleben, dass sich beim schweigenden Tönen von Vokalen gesetzmäßig bestimmte Vokalatemräume bilden, die sich von den Resonanzräumen, die wir vom Gesang kennen, unterscheiden.
Im Laufe der Arbeit am Leitseil des Atems (Ilse Middendorf) entstehen Bewegungen aus dem Atem, wobei wahrgenommen wird, dass der Ausatem verschieden gerichtet ist (aufsteigend, absteigend und horizontal). Das kann eine starke Atemkraft hervorrufen und unterschiedliche psycho-physische Reaktionen auslösen.Zum Beispiel verbinden Atemkraft und Atemraum durch den Spannungsatem die Pole innen und außen, oder es wird in der Arbeit mit Höhle und Richtung möglich, Gegensätze wie etwa weiblich und männlich, rund und eckig, weich und hart zu umfassen.
Mit der Zeit werden sich die Übenden immer mehr ihres individuellen, natürlichen Atemrhythmus bewusst und erfahren die Zusammenhänge zwischen ihrem Atemrhythmus und Lebensrhythmus. Im Einatem nehmen sie den Stoff auf, der sie füllt – im Ausatem äußern sie sich in ihrer schöpferischen Kraft. In der Ruhe nach dem Ausatem, der Atempause, erleben sie eine absichtslose Geborgenheit.
Die Heilkraft des Atems – von der alle bekannten Hochkulturen wussten – bezeugt sich darin, dass der Atem (wie keine andere Körperfunktion) auf das Engste mit allen physischen und psychischen Vorgängen im Menschen vernetzt ist:
In der Formatio Reticularis, einem komplex vernetzten Zentrum in der Tiefe des Stammhirns, in dem auch das Atemzentrum eingebettet ist, strömen alle Informationen von allen Bereichen des Organismus zusammen, die im Körper bzw. Gehirn entstehen. Jeder kleinste Reiz, von außen oder innen kommend, verändert die Art und Weise zu atmen, was vom Klienten differenziert erlebt und empfunden werden kann.
Somit wird verstehbarer, wie Atem und Bewusstsein miteinander verbunden sind: Jeder kleinste Reiz, jede Erregung von außen oder von innen verändert die Art und Weise zu atmen, – und das kann sehr differenziert erlebt und empfunden werden. Umgekehrt wirkt dieses kultivierte Empfindungsbewusstsein bis in die Tiefen der vegetativen und motorischen Steuerungsprozesse zurück.